Wissenswertes über das Land am Hindu Kusch:
Um den schwierigen und bei vielen Experten umstrittenen Afghanistan-Einsatz zu verstehen, bedarf es eines geschichtlichen Hintergrunds der Entstehungsgeschichte Afghanistans. Diese erklärt, warum das Land rund um den Hindukusch so schwer “in den Griff” zu bekommen ist. In der jüngsten Vergangenheit lassen sich im 19. und 20. Jahrhundert fünf Grundzüge erkennen, die das Land bis heute bestimmen. Conrad Schetter , Dr. phil. und wissenschaftlicher Mitarbeiter für Entwicklungsforschung in Bonn und Vorstandsmitglied der wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft Afghanistan schreibt in seinem Buch “Kleine Geschichte Afghanistans” dazu:
1.
“Der raue abweisende Naturraum war immer eine ungünstige Vorraussetzung für die Etablierung von Herrschaft. Aufgrund der kargen landwirtschaftlichen Erträge war allein der Überlandhandel zwischen China, Indien und Persien eine prosperierende Wirtschaftsform. Alle Reiche, die sich in dieser Region heruasbildeten, waren daher stets bemüht, eine der drei umliegenden fruchtbaren Regionen (Khorassan, Punjab oder Transoxanien) einzuschließen, um wirtschaftlichen Überschuß zu erwirtschaften. Sobald ein Reich nur auf das heutige Gebiet von Afghanistan beschränkt war, reichten die Überschüsse aus der Landwirtschaft nicht aus, um eine dauerhafte Herrschaft abzusichern. Dies hatte zur Folge, dass seit dem 19. Jahrhundert jeder Herrscher von ausländischer Hilfe abhängig war, um sich an der Macht zu halten; im 19.Jahrhundert war es die finanzielle Unterstützung der Briten und im 20. Jahrhundert die finanzielle Entwicklungshlfe der USA, der Sowjetunion und Deutschlands. Seit 1957 stammten über 40 % der Staatseinnahmen von auswärts aus der Entwicklungszusammenarbeit.”
2.
“Der eklatante Gegensatz zwischen Stadt und Land. Die wenigen Städte bildeten die wesentlichen Stationen an den Karawanenwegen und waren Teil des kosmopolitischen handelsnetzwerkes der Seidenstraße, während die ländlichen Regionen sich weitgehend selbst überlassen blieben (…) Dieser Gegensatz wurde im 20. jahrhundert zur beherrschenden Konfliktlinie.”
3.
“Die afghanische Gesellschaft ist durch einen extremen Partikularismus gekennzeichnet. Dörfer, Talschaften, Clans, Stammesgruppen und religiöse Gemeinschaften stellen in Afghanistan die wichtigsten Identitäts- und Handlungsbezüge dar, auf denen Patronage- und Klientelsysteme aufbauten.. Einhergehend mit dieser Gesellschaftsstruktur konnten sich bis heute egalitäre Herrschaftsformen vielerorts erhalten. Hieraus folgt, dass gesellschaftliches Prestige und politische Hierarchien stets in Frage gestellt werden und stark umkämpft sind. In vielen Epochen der afghanischen Geschichte zerfielen politische Bündnisse wegen persönlicher Rivalitäten und wurden Thronstreitigkeiten zwischen den potentiellen Nachfolgern blutig ausgetragen. Bis auf zwei Herrscher (Dost Mohammad und Abdur Rahman) wurden alle machthaben in den letzten 200 Jahren entweder vertrieben oder starben eines unnatürlichen Todes.”
4.
“Die starke kulturelle Zerklüftung diente immer wieder der politischen Mobilisierung. Nicht allein in sparchlicher und ethnischer, sondern auch in religiöser Hinsicht bildet Afghanistan ein äußerst mannigfaltes Land. Diese kulturelle Vielfalt nutzen Herrscher und Politiker stets für ihre Interessen. Gerade im Prozess der Entwicklung zum Nationalstaat wurde dieses kulturelle Mosaik als besonderes Hindernis empfunden.”
5.
“Afghanistan hat immer wieder weltpolitische Geschichte geschrieben. Im 19., Jahrhundert bildete das Great Game in Afghanistan zwischen England und Russland den Höhepunkt des Zeitalters des Imperialismus. 1979 beendete die sowjetische Invasion in Afghnaistan die Entspannungspolitik des Kalten Krieges und leitete die sowjetische Besatzung den Zusammenbruch der Sowjetunion ein. Schließlich weisen die Spuren der vielfach betonten Zeitenwende des 11. Septembers 2001 nach Afghanistan. Diese Großereignisse, mit denen Afghanistan in Verbindung gebracht wird, stehen immer in einer dirrekten Verbindung zu ausländischer Einflussnahme. Häufig wurden Entscheidungen von enormer Tragweite für das Land in weit entfernten machtzentren wie London, Moskau und Washington getroffen. Daher lässt sich eine Geschichte Afghanistans kaum ohne Berücksichtigung ausländischer Interessen schreiben.
Diese fünf Grundzüge der afghanischen Geschichte traten wie in einem Brennglas gebündelt während des Afghanistankrieges zutage, der in den letzten zwei Dekaden tobte (…) Der extreme Partikularismus führte dazu, dass sich der Widerstand wie die afghanische Regierung in unzählige konkurriende Gruppierungen aufsplitterte. Das ethnische Konfliktpotential kam im Verlauf des Krieges zum Tragen, da die Regierung wie die Widerstandsparteien ethnische Spannungen für ihre Interessen ausnutzten, um Kämpfer zu mobilisieren.”
Ich bin froh, dass Sie diese fünf Thesen publiziert haben. Sie hatten im alten Phoenix-Afghanistanblog mal eine Wissenschaftlerrunde zu AFG eingeladen und die hatten fast die gleichen 4 Thesen zu AFG als Statement von sich gegeben. Leider hatte ich mir den Text damals nicht gesichert, das kann ich nun nachholen !
Was bedeuten diese 5 Thesen für das deutsche und das Nato-Engagement in Afghanistan ?
1. Es gibt kein landwirtschaftliches Mehrprodukt in AFG, das Land wird dauerhaft auf finanzielle Hilfe von Außen angewiesen sein.
2. Es wird in absehbarer Zukunft keinen Nationalstaat in AFG geben, sondern eher ein Konglomerat von vielen Clanchefs.
3. Was früher die Handelswege der Seidenstraße waren, ist heute der Drogenhandel.
93 % des Weltdrogenhandels von Opium und Heroin lief 2006 über Afghanistan. Es ist logisch und nachvollziehbar, dass die Drogenbarone keine stabilen politischen Verhältnisse wollen, denn dies ist geschäftsschädigend (Nebenbemerkung: eine ähnliche Entwicklung gibt es ebenfalls im Kosovo – die europäische Hochburg der Organisierten Kriminalität ! ).
4. Bei unserer europäischen Sichtweise vergessen wir immer die Interessen der globalen Mächte in AFG. So berichtet der IAP-Dienst Sicherheitspolitik in seiner jüngsten Ausgabe, dass die rivalisierenden Politikkonzepte Indiens und China für AFG viel zu wenig in der westlichen Welt beachtet werden.
China möchte AFG als Rohstoffbaisis und als Landverbindung zu dem Öl des Irans haben. Außerdem ist es als Pufferzone zu Russland geeignet. Während China nur 175 Mio US-$ Entwicklungshilfe gezahlt hat, haben sie fast 4 MRD US-$ Direktinvestionen getätigt. Dafür hat China eine Kupfermine 50 km südlich von Kabul gekauft, ein 400 MW Kraftwerk und eine Eisenbahnlinie nach China via Tadschikistan soll gebaut werden. Insgesamt sollen sollen so 8000 Arbeitsplätze entstehen. China versucht keinen politischen Einfluss zu nehmen, hat in erster Linie wirtschaftliche Interessen.
Genau umgekehrt ist bei Indien. Indien zahlte seit 2002 1,2 MRD US-$ Entwicklungshilfe, baute eine große Botschaft und viele Konsulate in den Provinzstädten und versucht politischen Einfluss im Rücken von Pakistan zu gewinnen.
Pakistan steuert dem natürlich entgegen und lässt die Taliban weitgehend gewähren, unterstützt sie über den Geheimdienst, damit die staatlichen Verhältnisse in AFG nicht zu stabil werden.
Das „Great Game“ läuft also heute zwischen China und Indien ab. Beide sind die kommenden globalen Wirtschaftsmächte und damit die natürlichen Gegenspieler der alten und neuen Welt von Europa und den USA !
Was ist die Rolle der NATO und der Bw in AFG, in diesem „Great Game“ ?
Ist es unsere Aufgabe China die Rohstoffwege zu sichern ? Ist es unsere Aufgabe die Machtbalance zwischen Indien und Pakistan zu sichern ?
Ist es unserere Aufgabe aus einer Stammesgesellschaft einen Nationalstaat zu formen ?
Ist es unsere Aufgabe, den einzig funktionierenden Wirtschaftskreislauf, nämlich den Drogenhandel, gegen den Willen der politischen Führung in Kabul, zu unterbinden ?
Ich denke, es ist an der Zeit das westliche Engagement in AFG zu überdenken. Gegen die Drogenbarone gibt es mittelfristig kein Regieren in Kabul. Das hat auch Präsident Karzai erkannt. Er sieht, wie in obigen Artikel 3. Absatz geschildert, das in den letzten 200 Jahren fast alle Herrscher in Kabul vertrieben oder ermordet wurden.
Karzai hat sich den Realitäten angepasst, der Westen noch nicht !