Rückblick 2009:
Also war ich dieses Jahr doch in einem kriegsähnlichen Einsatz unterwegs? Dieses Jahr hat sich jemand getraut, das auszusprechen, wovor viele Politiker sich gedrückt haben. Und es war abzusehen, dass die Bundeswehr im Norden über kurz oder lang in Kämpfe verwickelt werden würde. Aus einer Feinschmeckerdebatte pellt sich nun plötzlich ein zartes gesellschaftspolitisches Interesse wie das Küken aus dem Ei.
Und an diesem Jahresende wieder die gleiche Frage: was hat uns dieses Jahr gebracht? Einige Hoffnungen aus 2008 sind jäh im Nirwana der Hoffnungslosigkeit verschwunden – die Wahlen in Afghanistan waren ein Desaster. Die Anschlagzahlen in Afghanistan steigen stetig. Die Taliban und anderen Aufständischen müssen sich eins ins Fäustchen lachen, wenn sie unseren politischen Schlagabtausch hierzulande mit verfolgen. Die Afghanistan-Konferenz am 28. Januar 2010 droht hoffentlich nicht zu einer Farce zu werden oder zu einer reinen Truppensteller-Konferenz. Obwohl Obamas Erwartungen an Deutschland hoch zu sein scheinen, hat es die deutsche Politik doch versäumt, sich rechtzeitig in seinen Afghanistan-Selbstfindungsalleingangkurs einzumischen, um damit in der internationalen Politik endlich ein eigenes Profil, Selbstbewusstsein und Charakter zu demonstrieren. Das Kundus-Bombardement – und plötzlich befinden wir uns in einer Rückzugsdebatte… Wer hätte das 2008 schon vermutet? Dieses Jahr war so viel los, dass wir die Afghanen in unseren Debatten im Blog und in unseren Medien komplett links liegen lassen haben. Ein geschasster Verteidigungsminister, ein neuer Generalinspekteur und ein Staatssekretär, der zum zweiten Mal in den Ruhestand geht. Ein Untersuchungsausschuss und vieles mehr. Die Aufmerksamkeit für den Bundeswehreinsatz am Hindukusch ist größer geworden. Nicht zuletzt wegen einer politischen Schlammschlacht der Parteien in Berlin. Aber gut so: das ist doch das, was wir erreichen wollten. Die Menschen sollen hinsehen und zuhören und sich einmischen. Afghanistan geht uns alle an. und wir dürfen die Menschen in diesem Land nicht vergessen, für deren Untertützung wir angetreten sind.

Foto: privat – Als Staatsbürger in Uniform im Bundestag mit dem ehemaligen Außenminister Steinmeier. Ich gebe zu: in diesem Moment war ich ein wenig irritiert und kam mir vor wie in einem falschen Film.
Dieser Jahresrückblick soll stellenweise sowohl persönliche Erlebnisse dieses Jahres als auch die Bedeutsamkeit dieses Blogs einschließen dürfen. Ich hoffe, Sie gestehen mir das zu – war und bin ich doch als Staatsbürger in Uniform immer noch von der Politik rund um die ISAF Mission betroffen. Die Zahl derer, die in meinem Handeln und Tun eine Gratwanderung sehen – ein Journalist als Reservist in Uniform- , haben mich auch dieses Jahr nicht davon überzeugen können, dass es falsch ist, was ich tue. Engagement scheint für viele Menschen ein Fremdwort zu sein, inklusive derer, die schon in fast rufmordkampagnenmäßig Leser Rezensionen über mein Buch Kabul, ich komme wieder bei Amazon einstellen – üble Nachrede ist da noch ein freundlicher Begriff für. Ich weiß, wer es war und habe auf eine Anzeige verzichtet. Andere meinen „nun lass mal Afghanistan Afghanistan sein, halt die Füße still und funktioniere wieder“.
In den letzten drei Jahren war ich insgesamt 10 Monate am Hindu Kusch, was übersetzt so viel wie Inder töten bedeutet – wissen wohl auch nicht viele. Und dort wird also unsere Republik verteidigt. Das Jahr begann hoffnungsfroh und aufregend. Der Einsatzführungsstab der Bundeswehr setzte neue Schwerpunkte und suchte Interkulturelle Einsatzberater. Fast wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. In einem langen Bewerbungsverfahren nahm ich dann die letzten Hürden geballter Bedenkenträger, um die Soldaten in Afghanistan als Landeskundlicher Berater unterstützen zu dürfen. Aus Überzeugung, weil ich in meinen ersten beiden Einsätzen am eigenen Leibe gespürt habe, wie viel Hoffnung die Afghanen gerade in uns Deutsche setzen. Den Afghanen zu helfen, bedeutet Aufmerksamkeit schenken, Zuhören und Kommunikation auf Augenhöhe als säße man in einem gemeinsamen Orchester, um ein Konzert zu geben. Den Menschen nicht das Gefühl geben, Sie hätten nur nach unserer Pfeife zu tanzen. Ich war auch schockiert, dass es immer noch Offiziere gibt, die afghanischen Frauen zur Begrüßung die Hand reichen. Manch einer sah in der interkulturellen Beratung lediglich esoterisches Geschwätz als unabdingbares Muss. Zwischen Theorie und Praxis liegen immer noch Welten.
Kurz vor Beginn meines Einsatzes starb meine Mutter. Für Trauer blieb wenig Zeit, musste ich mich doch mit meinem eigenen möglichen Tod beschäftigen: Testament vorbereiten, Patientenverfügung. Einsatzvorbereitende Ausbildung bei der NATO , BKA, anderen Organisationen und bei der Bundeswehr.
Ich bin mit absoluter Überzeugung in diesen dritten Einsatz gegangen, mit der Überzeugung, einen Weg fortzuführen, der damals 2007 eher zufällig mit einer ersten Mission begann. Aus Abenteuer, Neuem wurde Verwunderung und dann Überzeugung: gestaltete sich die Realität des Landes aus meiner subjektiven Perspektive nicht so wie unsere Medien sie immer wiederspiegeln. Es gibt nicht nur Bomben und Terror im geliebten dunklen Land, nein, es gibt auch Fortschritte, für die sich hierzulande kaum jemand zu interessieren scheint: zahlreiche Wiederaufbauprojekte, kleine, große oder beispielsweise den Mut eines Afghanen, eine eigene Getränke-Fabrik zu gründen, damit das Land seine Coca Cola nicht mehr aus Pakistan importieren muss – Afghan Coke. Arbeitsplätze sind so entstanden und damit auch viel Hoffnung für Angestellte, die dem Terror trotzen und sich plötzlich eine eigene „Existenz“ für ihre Familie leisten können. Ich habe viele meiner afghanischen Freunde wiedergetroffen. Und jedes Mal diese unnachahmliche Gastfreundschaft, von deren Herzlichkeit wir uns einige Scheiben abschneiden können. Ja, ich musste mich auch mit den Schattenseiten dieses Einsatzes beschäftigen, musste die Blutzoll-Zahlungen für getötete Afghanen aushandeln und Handlungsempfehlungen für Oberst Klein vorbereiten, denjenigen einen, den dieser Einsatz wohl ein Leben lang verfolgen wird – als jemand, der Tag täglich Entscheidungen über Leben und Tod treffen musste. Ich durfte geschichtsträchtige Afghanen kennenlernen und konnte mich mit ihnen über die Zukunft ihres Landes unterhalten – bitte sehen Sie mir nach, wenn ich an dieser Stelle keine Namen nenne, das wäre kontraproduktiv. Ihre Ansichten und Pläne fürs Land sind anders als wir uns das immer vorstellen. Der größte Fehler, den die internationale Gemeinschaft mache, wäre, nach acht Jahren immer noch nicht den eigentlichen Feind des Landes definiert zu haben. Sind es nun die Taliban, deren Trittbrettfahrer, die Gemäßigten, die Al Kaida und/ oder deren Nachahmer oder die vielen kriminellen Wochenendsöldner, die sich ein Zubrot zum Überleben ihrer Familien dazu verdienen. Tagsüber auf dem Feld zum ernten und danach unterwegs im Gefecht.
Wenn ich überlege, dass 2007 noch ein reguläres Ziel war, 70000 afghanische Soldaten ausbilden zu wollen, damit das Land sich um seine eigene Sicherheit kümmern kann, waren es im zweiten Einsatz 2008 gerade mal ca. 22000, die tatsächlich ausgebildet werden konnten. Heutzutage sind wir bei angedachten 240 Tausend, sowie sich das Obama vorstellt. Davon sind wir Lichtjahre entfernt und der ideenreiche Plan, 2011 aus Afghanistan abzuziehen, ist aus heutiger Sicht längst eine Farce. Was im Irak funktionierte, muss nicht unbedingt auch in Afghanistan gelten. Also, warum gaukelt man der Öffentlichkeit einen absurden Plan vor, der nur eine Stillhalten und Zufriedenstellen der Kritiker dieses Einsatzes befriedigen soll. Auf einem meiner Vorträge fragte mich einmal ein General, was denn meine Patentlösung für Afghanistan sei. Meine Antwort war nüchtern und direkt. „Wenn ich das wusste, musste ich hier nicht vortragen.“ Fakt ist immer noch, dass die Probleme Afghanistans vielfältiger sind als nur die Polizeiausbildung besser oder anders zu organisieren. Die Verzahnung von ethnischen, strukturellen, terroristischen Problemen, Drogenhandel und Korruption sind in diesem Land gewuchert wie ein Krebsgeschwür. Die Menschen Afghanistans sind kriegsmüde. Es herrscht ein Krieg auch um Bildung. Zirka 70% der Afghanen sind Analphabeten.
In besonderer Erinnerung bleibt mir die Begegnung mit dem Provinzgouverneur von Balkh, Ustad Mohammed Atta Noor, den ich ja schon 2008 in Frankfurt kennen lernen durfte. Als er erfuhr, dass ich im Lande sei, lud er uns prompt in sein privates Gästehaus ein. Tee, gemeinsames Essen – große Teile seiner Familie waren auch anwesend, was in Afghanistan eine große Vertrauensgeste gegenüber einen Fremden ist und dann haben wir eine halbe Stunde Billard gespielt – einfach so. Unglaublich aber wahr. Normalerweise duldet Atta keine Gäste in seinem Haus, die Waffen tragen – wir durften sie weitertragen. Sicherlich auch ein interkulturelles Verständnis von ihm, weiß er wohl wahr, dass wir unsere Waffen nicht ablegen dürfen und er uns mit sonst nur in Verlegenheit gebracht hätte. Atta galt und gilt in Afghanistan bei vielen als das Zünglein an der Waage. Ich durfte ihn von einer sehr privaten Seite kennenlernen – und das weiß ich sehr zu schätzen, zumal er bei vielen auch als umstritten gilt, was seine Politik für oder gegen manch eine ISAF-Nation anbelangt. Er hat einerseits den Schalk im Nacken sitzen und ist andererseits auch ein Schlitzohr. Ein Mann, den man nicht unterschätzen darf. Seine Zeit in Kabul sähe er erst in vier bis fünf Jahren, meinte er. Warten wir es einfach mal ab – Karsai muss sich jetzt beweisen, sonst ist seine Zeit bald vorbei.
Dieses Afghanistanblog hat zu Beginn des Jahres eine neue Stationierung erhalten und übersteigt mittlerweile die alten Einschaltquoten um ein Vielfaches – unabhängig und einzigartig. Dafür vielen Dank an die alten und neuen Stammleser, die ihren Weg hierher gefunden haben. Wir werden weltweit gelesen. Und ihre Leserkommentare tragen dazu bei, sich eine eigene Meinung und Ansichten zu bilden und bei WordPress sind wir seit einigen Tagen unter den Top 100 Blogs. Die Politik liest hier mit, dass weiß ich aus einschlägigen Quellen. Das bestätigt mir einmal mehr, dass unser Forum wichtig ist. Vor einigen Wochen hatte bekam ich eine dubiose Anfrage einer angeblichen Journalistik-Studentin aus London, die unser Blog zur Grundlage einer journalistischen Analyse machen wollte. Ich sollte ihr diverse Fragen per Email beantworten, warum ich denn nur aus Online-Zeitungen zitierte und ob ich meine Leser auch alle persönlich kennen würde. Da ich keine blinden Interviews gebe, bat ich die Dame, mich telefonisch zu kontaktieren – auf den Anruf warte ich heute noch. Ich versuchte ihr vorab das Anliegen dieses Blogs zu erklären, damit sie weiß, welcher Hintergrund uns treibt. Dass die Verlinkung auf aktuelle Medienberichte auch eine Wahrnehmungsperspektive unser Massenmedien spiegeln soll, die wir dann hier mit unseren individuellen Ansichten kommentieren, schien sie nicht verstehen zu wollen.
In den letzten Wochen dieses Jahres sind unsere Diskussion politscher geworden und haben dazu beigetragen, dass wir den Fokus auf die Afghanen streckenweise verloren haben. Ich bitte dies zu entschuldigen, verspreche aber, dass sich das im nächsten Jahr wieder in einem gewohnten Verhältnis einpendeln wird. Zurzeit versuchen wir ja, eine Traumhochzeit wahr werden zu lassen. Micha, derzeit in Afghanistan und seine Heidi allein in der Heimat. Die Themen sind und sollen vielfältig sein – nicht aber boulevardesk.
Und dann haben Soldaten gesprochen dieses Jahr – im SZ-Magazin Briefe von der Front. Für mich ein Highlight dieses Jahres. Unverhofft. Ein Mosaikstein für eine große Debatte, auf den wir alle „Betroffenen“ hingearbeitet haben. Vielen Dank für ihren Mut – auch, wenn die meisten Soldaten sich nicht unter ihrem eigenen Namen lesen wollten.
Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die Afghanistan-Mission der Bundeswehr mehr Transparenz erhalten wird. Wir sind auf einem guten Weg. Schön zu wissen, dass einige nicht umkippen, wenn es stürmt – sowohl in der Politik als auch unter uns. Lassen Sie uns aus der Feinschmeckerdebatte ein unendliches Menu werden. Ich könnte jetzt noch seitenweise weiterschreiben, möchte Ihre Geduld nicht weiter mit meinen Ansichten belasten.
Ich danke den vielen Menschen, die mir in Afghanistan begegnet sind, allen, die mir stets Mut machen, weiterzumachen – trotz aller Widrigkeiten, deren Erwähnung hier eher an der falschen Stelle stünden. Es gab auch einige menschliche Enttäuschungen im letzten Einsatz, deren Erwähnung hier nicht als Abrechnung missverstanden werden solle, sondern als prägende Erfahrung, dass nicht alles Gold ist, was glänzt.
Einen besonderen Gruß richte ich an diejenigen Menschen in der Bundeswehr, die meinen Einsatz positiv unterstützt haben und bei denen ich mich noch nach gegebenem Abstand persönlich bedanken möchte. Wie meinte ein Oberst a.D. gestern zu mir: „Gegen den Strom schwimmen bringt die Hoffnung, dass einiges vielleicht irgendwann einmal anders werden wird.“ Einiges ist schon, wie Sie selber miterlebt haben, anders. Schwimmen sie bitte weiter mit. Gemeinsam sind wir stark. In diesem Sinnen: Ihnen und Ihren Lieben in der Heimat und im Einsatz einen den Umständen entsprechenden Guten Rutsch ins Neue Jahr. Wir lesen uns.
Bestimmt habe ich noch viele wichtige Dinge vergessen, aber die können wir ja dann hier miteinander mit Ihren persönlichen Rückblicken und Momenten auffüllen.
Herzlichst,
Ihr
Boris Barschow
Rückblick 2008:
Worüber wir dieses Jahr debattiert haben…
Was hat das Jahr 2008 in Afghanistan gebracht? Es ist das bisher verlustreichste Jahr der ISAF Truppen seit Ende 2001. Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums sind 2008 mehr als 280 Soldaten gefallen. Rund 66000 Soldaten aus 37 Ländern stehen derzeit am Hindukusch. Letzten Meldungen zufolge werden es spätestens nächsten Sommer über 100000 sein, denn die USA wollen zusätzlich 30000 Frauen und Männer nach Afghanistan schicken. Der Afghanistan-Einsatz dauert numehr schon länger als der zweite Weltkrieg. Der Bundestag hat das laufende Bundeswehr-Mandat von 12 auf 14 Monate verlängert, damit die nächste Mandatsdebatte nicht in den Wahlkampf-Endspurt fällt. Hierzulande ist Afghanistan immer noch kein gesellschaftsrelevantes Thema. Dieses Jahr bemühten sich immerhin einige Medien, tote deutsche Soldaten als gefallen zu bezeichnen. Verteidigungsminister Franz Josef Jung benutzte in seiner Trauerrede für die beiden Soldaten des Fallschirmjägerbataillions 263 aus Zweibrücken erstmals das Wort “gefallen”. Experten, also Völkerrechtler und Politikwissenschaftler, streiten sich, ob sich die Bundeswehr mittlwerweile in einem Krieg befindet oder nicht. Für das BMVG ist der Einsatz offiziell immer noch ein Wiederaufbaueinsatz, obwohl die Sicherheitslage insgesamt so schlecht ist wie noch nie. Im Grunde genommen ist es auch egal, wie man das Kind beim Namen nennt. Nur die Gesellschaft sollte von unseren Volksvertretern mehr sensibilisiert oder interessiert werden. Die Politik sollte ehrlicher zu ihren Wählern sein. Denn Afghanistan betrifft uns alle bzw. geht uns alle an. Die Republik am Hindukusch verteidigen ja, aber diese Erklärung wollen viele nicht mehr verstehen oder akzeptieren. Erklärungsbedarf. Mittlerweile ist die NATO mitten in einer Problematik gelandet, aus der es schwierig ist, ohne Gesichtsverlust wieder herauszukommen. Ende also immer noch offen. Die Taliban bieten der internationalen Gemeinschaft frech und großzügig einen ehrenvollen Rückzug an. Doch den kann und darf sich die NATO nicht leisten – sie führte sich dann selber ad absurdum. Zwickmühle. Die Propagandaschlacht zwischen den Aufständischen und den Medien der westlichen Länder wird immer intensiver. Für den Beobachter aus der Ferne wird es immer schwieriger, Wahrheit von lancierter Information zu unterscheiden. Das eh nur geringe Interesse der Zeitungsleser und Fernsehzuschauer geht deshalb nachvollziebarerweise zurück – Was geht mich das alles an, ist doch eh alles so weit weg.
Was können Politik und Militär besser machen?
Viele Nationen sind bisher in Afghanistan gescheitert: die Briten, die Russen. Jetzt auch wir? Ich behaupte nein. Die NATO wird nicht scheitern, wenn sich die Regierungen aller beteiligter Nationen eingestehen, Fehler gemacht zu haben und ab nun versuchen, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. 2009 wird mit Sicherheit ein schwieriges Jahr: die Wahlen in Afghanistan stehen an. Die regionalen Machtinteressen der afghanischen “Global Player” am Hindukusch werden aufeinander stoßen, um ihre eigene Struktur aufrecht zu erhalten und zu verteidigen. Ob Hamid Karsai ein drittes Mal zum Präsidenten gewählt wird, ist fraglich – zu groß ist der Unmut der afghanischen Bevölkerung über Korruption in der eigenen Regierung. Und solange die Afghanen mit eigener Überzeugung den Drogenanbau nicht bekämpfen, wird eine hoffnungsvolle Zukunft sehr schwierig. Vielleicht sind aber alle 37 Nationen, die für die NATO in Afghanistan sind, zu sehr damit beschäftigt, ihr eigenes Süppchen zu kochen. Zu unterschiedlich immer noch die Einsatzregeln der einzelnen Nationen. Wiederaufbau und Sicherheit kosten viel Geld. Zivile Wiederaufbauorganisationen (NGOs) beklagen immer mehr, daß die Sicherheit im Lande so schlecht geworden sei, dass viele von ihnen über einen Rückzug aus Afghanistan nachdenken oder nur noch eine obligatorische handvoll Repräsentanten im Lande behalten. Warum eigentlich packt man Militär und zivile Hilfe nicht zusammen? Warum investieren NGOs immer noch eine Menge Geld in eigene teure Gebäude und deren Sicherung? Wenn beide zusammen in einem Feldlager untergebracht wären, könnte man viel Geld sparen und dieses dann in direkte Hilfe fürs Land investieren. Militär und NGOs könnten dann trotzdem noch unabhängig voneinander arbeiten.
Interkulturelle Kompetenz als Schlüssel zum Erfolg?
Es gibt viele Ansichten und Meinungen über Fehler, die in Afghanistan gemacht wurden. Und einer der größten wurde aus interkuktureller Sicht schon ganz am Anfang gemacht: beim Pertersberger Abkommen Ende 2001, als eine große Jirga in Deutschland einberufen und den prominent versammelten Afghanen eine freie demokratische Zukunft versprochen wurde und man ihnen dann ganz undemokratisch einen Präsidenten vor die Nase gesetzt hat: Hamid Karsai.
Wenn man in Afghanistan einen Einheimischen fragt, was sich durch ISAF im Lande geändert habe, dann bekommt man oft immer die gleiche Antwort: “Der Verkehr in den Städten hat zugenommen und es gibt immer mehr Verkehrstote.” Ziemlich ernüchternd! Versuchen Sie sich doch mal, in diese Lage zu versetzten und schauen in Ihrer Stadt aus dem Fenster und stellen sich im Straßenverkehr 37 muslimische Nationen vor, die in ihrem Ort herumkurven. Ungefähr so kommen sich offenbar die Afghanen vor.
Religiöse Monopole durchbrechen?
Um in Afghanistan einen Fuß auf den Boden zu bekommen, muss man wissen, dass die Struktur der Gesellschaft immer in der Hand des Widerstandes bleiben wird. Wie jeder Topf braucht auch jede Gesellschaft ein Ventil. Es gilt also, die lokale Logik verstehen zu lernen. Die Taliban erklären ihren Landsleuten den Tod von Stammesbrüdern nach einem Selbstmordanschlag mit den Worten: wenn die “Besatzer” nicht wären, müssten wir sie nicht bekämpfen und wenn wir sie nicht bekämpfen müssten, gäbe es auch keine toten Afghanen. Die Taliban gehen dann in die Dörfer und sprechen mit ihren Bewohnern und geben ihnen Geld zum Überleben. Praktisches Marketing. Durchbrochen werden könnte dieses religiöse Monopol der Taliban dadurch, dass man der afghanischen Gesellschaft hilft, zu gewohnten Strukturen zurück zu kehren – sozusagen zum Wiederaufbau eines geistlich gesellschaftspolitischen Netzwerkes, wie es es früher normal war: jedes Dorf braucht seinen Khan (den Würdenträger und die Kraft des Stammes, vergleichbar mit einem Grafen), den Malek (Dorfvorsteher – eine Art Bürgermeister, der durch ein Jirga gewählt wird) und einen Mullah (den Kleriker, ein geistiges Oberhaupt) – übrigens ist der Taleb (übersetzt: der Student) die “Vorstufe” zum Mullah. Solange die Taliban das religiöse Monopol (radikalisiert) inne haben, haben die vielen Dörfer keine Chance, zu dieser alten Struktur zurückkehren zu können. Ziel könnte sein, dass jede Region oder Provinz einen höheren Mullah hat – der höchste säße in Kabul. Und in regelmäßigen Abständen träfen sich die regionalen geistigen Repräsentanten zu einer Jirga in der Hauptstadt – quasi als zusätzliche morlalische Instanz zum Parlament.
Mehr Mundpropaganda und mehr Bildung
Manche Afghanen vergleichen die ISAF im Kampf gegen die Taliban mit dem Bild: “Das ist so als wenn man mit einem isalmischen Heer in einem tief religiös christlichem Gefilde die Messdiener verfolgt.” Wer in Afghanistan eine Chance haben möchte, akzeptiert zu werden, der muss dafür sorgen, dass die Religion aus dem Monopol der Taliban herausgelöst wird. Denn nur dann habe das Land die Chance, in alte gewohnte gesellschaftliche Strukturen zurückzukehren, um dann selbst – mit eigener Kraft – in eine eigene Zukunft zu investieren. Ob das der Schlüssel zur Lösung ist? Zumindest hören sich diese Argumente nachvollziehbar und logisch an: das Ergebnis vieler Gespräche, die ich mit Afghanen am Hindukusch und in Deutschland geführt habe.
Wer in Afghanistan Erfolg haben möchte, braucht eine gute Mundpropanda, erzählen mir interllektuelle Afghanen. 70 bis 90 Prozent aller Afghanen seien Analphabeten, können Zeitungen nicht lesen oder haben keinen Strom, um Fernsehen zu gucken. Nach der jüngsten und überhaupt ersten professionellen Medienanalyse in Afghanistan, wissen wir nun, dass nur 4 Prozent aller Afghanen die Sada-e-Azadi (Stimme der Freiheit) überhaupt lesen (können). In diese Kerbe schlägt auch Oberst Dietger Lather – derzeitiger Kommandeur der OpInfo Truppe im HQ ISAF Kabul – in der Rheinzeitung:
“Zwei Drittel der Bevölkerung glauben zunächst einmal dem Gedruckten und Gesendeten. Die Erfahrungen mit den Medien sind noch frisch. Aber über zwei Drittel der Bevölkerung glauben der Taliban Propaganda nicht. Zu oft haben Afghanen die Grausamkeit der Selbstmordattentäter oder die Exekution Unschuldiger erleben müssen. Wer in dieser Kultur einmal das Vertrauen verloren hat, kann es nicht wiedergewinnen. Internationalen Organisationen und das intern. Militär werden mit gleichem Anspruch gemessen. Zu oft schon haben die Afghanen Versprechen nicht erfüllt gesehen. So überrascht es auch nicht, dass fast ein Viertel der Menschen nur den Nachrichten glauben, die sie von Vertrauten erhalten. Mit dem Erzählen im Kreis der Familie, der Ältesten und Familienoberhäupter wird Wissen weitergegeben. Medienarbeit im europäischen Stil erreicht die Dörfer und Häuser nicht. Medienarbeit in Afghanistan beginnt mit Gesprächen, um Vertrauen zu den einflussreichen Menschen aufzubauen, deren Wort gehört wird. Sowohl für weltliche wie religiöse Botschaften. Sie finden über das Gespräch ihren Weg in die entlegenen Täler. Allerdings viel schneller als jemals zuvor. Afghanistan ist ein Land mit einer rasant wachsenden Informationsinfrastruktur. Viele Menschen können nicht lesen und schreiben, aber über das Handy wird miteinander gesprochen, es ist der elektronische Basar.“
“Mund zu Mund” – so verbreiten sich Erfolge in Afghanistan. Und Erfolge sind Dinge, die Menschen im Leben sofort benutzen oder gebrauchen können, um zu überleben oder um ihre eigene Zukunft sichern zu können. Die Taliban geben den Afghanen nur kurzfristige Hilfe: Geld für einen Selbstmordattentäter, damit der seiner Familie Geld hinterlassen kann. So verzweifelt sind manche Afghanen. Der eigene Tod als kurzfristige Hoffnung. Pervers.
Und nun stellen wir uns einmal vor, die Afghanen würden sich gegenseitig weiter erzählen, dass die “Besatzer” dafür sorgen, der Gesellschaft zu alt gwohnten Strukturen zurück zu verhelfen (sh. oben), was könnte das für ein Erfolg werden?
Mittlerweile haben einige ISAF Nationen angekündigt, sich in den nächsten ein bis zwei Jahren aus Afghanistan zurückziehen zu wollen. Und was passiert dann? Derweil lachen sich die radikalen Taliban in ihren feuchten Höheln ins Fäustchen und fragen sich: “Mal sehen wie lange sich die Besatzer ihren Besuch bei uns noch leisten können.”
Der letzte Post für 2008 – wenn nichts mehr passiert…
Liebe Blogger, dieser lange Post: “große Worte” – Ergebnis vieler Gespräche und Recherchen. Wir alle hier wissen, wenn man miteinander redet, dann klärt man sich gegenseitig auf. So haben wir das seit über einem Jahr getan. Mit Erfolg wie ich denke. Dafür möchte ich Ihnen allen herzlich danken. Ohne Sie wäre dieses Blog nicht zu dem geworden, was es ist: die einzige Plattform Deutschlands, auf der auf so hohem Niveau diskutiert und respektvoll miteinander umgegangen wird. Sieben Monate war ich in zwei Einsätzen in Afghanistan und hoffe, Ihnen mit meinen persönlichen Erfahrungen, interessante Einblicke verschafft zu haben. Aber auf der anderen Seite muss ich zugeben: ich bin auch schon wieder zu lange in der Heimat, um mich auf Quellen aus erster Hand informieren zu können. Dennoch: durch Sie und viele andere, die ich in den letzten Monaten hier kennengelernt habe, habe auch ich einen viel umfassenderen Blick auf Afghanistan bekommen. Nichtzuletzt hat auch Melmapalena viel gegenseitiges Verständnis gebracht. Gastfreundschaft als eine andere Hoffnung auf eine bessere Zukunft: man redet über uns – auch in Afghanistan. Bleiben wir dabei: “Tue Gutes und rede darüber”. Ich wünsche Ihnen allen einen guten Rutsch ins Jahr 2009, vorallem Gesundheit und die Fähigkeit schätzen zu können, dass wir alle dort leben, wo wir leben dürfen, nämlich in Deutschland. Ich freue mich mit Ihnen auf das nächste Jahr.
Herzlichst,
Ihr
Boris Barschow
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Der Rückblick 2009 wird bald in der Mache sein. Interessant, wenn man 2008 liest und jetzt schon mal an 2009 zurück denkt….
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